Paragliding

Wie mich der Tod motiviert zu leben

Veröffentlicht in: Abenteuer Alltag | 11

In ihrer diesjährigen Blogparade zur Passionszeit fragen Petra und Annegret vom Totenhemd-Blog: „Wo spaziert der Tod durch euer Bild?“ Diese spannende Frage kommt mir wie gerufen, denn der Tod spaziert mir tatsächlich grade auffällig oft durchs Leben.

Vor fünf Jahren, zwei Monate, drei Wochen und zwei Tagen starb meine große Schwester in unseren Armen. Einer der ersten klaren Gedanken, die ich danach hatte, war: „Und jetzt mache ich was Ordentliches aus meinem Leben!“ Was das sein sollte, wusste ich noch nicht und es sollte auch noch eine ganze Weile dauern, bis ich dazu die Kraft haben würde. Aber ich wusste, dass ich ab sofort selbst dafür verantwortlich sein würde, mich zu erden, mich daran zu erinnern, was wichtig ist und mich auf Kurs zu halten. Meine große Schwester, die dies bisher zuverlässig für mich erledigt hatte, war nicht mehr da. Oder doch noch da, aber anders.

Der Tod war immer eine Lebensbegleiterin für mich gewesen, aber mit dem Tod meiner Schwester wurde er greifbarer. Ich spürte deutlich, dass ich nicht mehr die Ewigkeit vor mir hatte, um mir meine Träume und Wünsche zu erfüllen. Als ich endlich aus meiner Trauerstarre auftauchte, traute ich mich zu wagen, ließ alles hinter mir und machte eine Weltreise.

Seit ich wieder zurück bin, versuche ich, faule Kompromisse zu vermeiden. Ich brauche keinen schicken Job mit Angebertitel, in dem ich nicht glücklich bin. Mir ist bewusst, dass ich an meiner Arbeit ersetzbar bin, aber dass meine Rolle als Tochter, Patenkind, Geliebte, Freundin, Tante nur von mir erfüllt werden kann. Klar, wird das Leben auch irgendwann ohne mich weitergehen, aber diese persönlichen Spuren im Leben von anderen sind wohl die einzigen Spuren, die ich hinterlassen will.

Dass mein Leben und die Leben all der Menschen um mich herum endlich sind, versuche ich im Alltagstrubel im Blick zu behalten, aber ich übe noch und viel zu oft schwankt mir dieser Fokus. Ich verliere mich in Alltagsquatsch, der laut schreiend so tut, als sei er wichtig, rege ich mich über Banalitäten auf, steigere mich in Belanglosigkeiten und verfolge Ziele, die eigentlich gar nicht meine sind.

Und dann spaziert mir der Tod durchs Leben.

Ich sehe ihn in Gestalt meiner Schwester, die mir in den letzten Wochen wieder öfter durch die Träume hüpft, sich von mir halten lässt, mit mir tanzen geht. Dass ich sie nach all den Jahren immer noch so vermisse, erinnert mich daran, wer ich sein will.

Oder ich treffe den Tod bei meinem Lieblingsonkel, der im letzten Herbst einen Schlaganfall hatte und an schlechten Tagen sterben wollte. Und statt mir einzureden, dass das ja wieder alles gut wird, weiß ich, es wird nie wieder so wie vorher. Vorher kommt nicht mehr zurück, egal, wie hart er kämpfen wird. Diesmal ducke ich mich nicht weg in Pepptalk, in Motivationsnegierung, die ich früher noch bei meinen Großeltern vorgeschoben habe und meiner Oma so die Chance nahm, mit mir über ihren Tod zu reden, bis sie beide mir einfach so unter den Händen weggestorben sind.

Vor vier Wochen sah ich den Tod am Straßenrand stehen, als wir auf der Landstraße mit 90 kmh fast einen sehr schweren Zusammenstoß gehabt hätten, an dem dann noch drei weitere Autos und ein LKW beteiligt gewesen wären. Keine Ahnung, warum er mich noch nicht mitnehmen wollte, aber das wäre mal wieder eine Gelegenheit für ihn gewesen. Stattdessen hat er mir zugezwinkert: „Weißt du noch? Lebe!“

An dem Abend schrieb ich in Anlehnung an das Peanuts-Zitat in meinen Tagebuchkalender:

„Eines Tages werden wir sterben müssen. Aber an allen anderen Tagen nicht.“

An allen anderen Tagen leben wir. Der Tod erinnert mich daran, diese Tage zählen zu lassen, ihnen Bedeutung zu geben, sie nicht vorbeirauschen zu lassen im Alltagssog.

Heute ist ein ganz besonderer Tag: Es ist der Geburtstag meiner großen Schwester. Ein Tag, an dem ich Kuchen essen und das Leben feiern werde und all die Spuren sehe, die meine Schwester in so vielen Leben hinterlassen hat. Ein Tag, an dem ich Lächeln verschenken werde, nicht so leuchtende wie ihre, aber immerhin meine, weil man damit das Ordentlichste aus allen Tagen herausholen kann.

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Bildnachweis: JacLou DL auf Pixabay.

11 Antworten

  1. Petra

    Liebe Silke, schöööön. Danke für deinen Blogartikel in unserer Blogaktion.
    Ich werde ihn noch präsent einstellen.

    Herzlichen Glückwunsch schicke ich deiner Schwester … und dir leckeres Kuchen-essen.

    Genieß den Tag, Herzlich. Petra

    • Silke

      Dankeschön, liebe Petra. Und danke noch einmal für diese tolle Aktion.

    • Silke

      Danke, liebe Hiltrud. Klar darfst du das, ich freue mich. Danke fürs Fragen. Bleib du auch gut behütet!

  2. Renate

    Liebe Silke,
    ein sehr schöner Beitrag, der nachdenklich macht und doch motiviert. Als ich noch sehr jung war, konnte ich mit Krankheit und Tod nicht gut umgehen. Eine Kollegin von mir hatte Krebs und es fiel mir schwer darüber zu reden. Es fühlte sich alles so überflüssig an. In einem einzigen Jahr sind dann ein Kollege, der Schwiegervater, die Schwiegermutter meiner Schwester, eine Tanzlehrerin von mir und zuletzt meine Mutter gestorben. Da war ich knapp über dreißig Jahre alt.
    Ich habe sehr lange gebraucht, um das alles zu verdauen.

    Bei meinem Kollegen war es so, dass er nie Urlaub gemacht hat. Er hat auch die Mittagspause durchgearbeitet. Ist nie verreist. Er war ein sehr gewissenhafter, älterer Herr. Dann ist er einmal mit seiner Frau an den Bodensee gereist und hat gefallen daran gefunden. Kurz danach bekam er Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich war einmal bei ihm im Krankenhaus. Er hat furchtbar geheult und mich dann weggeschickt. Diese ganzen Vorfälle haben mich gelehrt, nichts zu verschieben. Ich liebe das Reisen und mein Mann und ich sind viel unterwegs gewesen. Es sagt sich ja immer so leicht, lebe heute aber es ist wirklich so.

    Liebe Grüße
    Renate

    • Silke

      Liebe Renate,
      ich glaube, grade weil es sich so leicht sagt und wir es so oft auch im Mainstream hören („Carpe diem“, „YOLO“) und auf Motivationspostkarten lesen, sind solche Geschichten wie die von dir wichtig, weil sie die Chance haben, durchzudringen. Oder muss man immer selbst den Tod in irgendeiner Form gesehen haben, um sich ans Leben zu erinnern? Vielleicht höhlt ja auch hier steter Tropfen den Stein. Mir tun diese Erinnerungen jedenfalls immer wieder sehr gut. Herzlichen Dank also für deine persönlichen Geschichten!
      Euch noch viele wunderbare Reisen (hoffentlich bald wieder) und liebe Grüße – Silke

    • Silke

      Oh, vielen Dank für diese nette Nachricht und das schöne Kompliment.

  3. Anna-Lena

    Ich bin berührt! Gerade in Zeiten wie diesen müssen wir uns gegenseitig stützen!
    Auf deine Schwester und dass du gesund bleibst!
    LG Anna-Lena

    • Silke

      Dankeschön für dein Feedback, liebe Anna-Lena. Ja, jetzt müssen wir zusammenstehen. Bleib du auch gesund!

  4. Katharina Hohenfels

    Hey,
    mir gefällt dein Zitat, und doch habe ich ein etwas anderes Zitat als das, was dich durchs Leben begleitet.

    Ich bin überzeugt, dass wir nicht sterben müssen. Seit ich lebe weiß ich, dass ich nicht sterben will. Und evolutionär gesehen ist der Tod sogar auch sinnlos, weshalb manche Tiere sogar unsterblich sind (nur eben wir Menschen nicht). Ich vertraue auf die Forschung und mein Ziel ist es, über das Pharmaziestudium in die biogerontologische Forschung zu kommen. Das Ziel:

    Schneller mithilfe von Forschung die Lebensspanne zu erweitern als zu altern. Weil ich das Leben liebe und es nicht ertrage, zu sterben, ohne nicht wenigstens versucht zu haben, es nicht zu tun.

    Liebe Grüße,
    Katharina Hohenfels

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